Interview mit dem Tübinger Kirchenhistoriker Volker Leppin

Hieronymus Bosch: "Das jüngste Gericht"
(Foto: Wikimedia Commons)

Martin Luther wurde in die spätmittelalterliche Welt hineingeboren – das ist unbestritten wahr, doch viel ist damit nicht gesagt. Denn „das“ Mittelalter hat es so nie gegeben. Diese Ansicht vertritt Volker Leppin, Professor für Kirchengeschichte an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Lutherdekade. Er erklärt, wie weit Martin Luther in den geistesgeschichtlichen Strömungen seiner Zeit verwurzelt war und an welchem Punkt er etwas gänzlich Neues schuf – eine Theologie, die die Kraft besaß, Tod und Teufel zu verlachen und aus der in letzter Konsequenz eine neue Kirche entstand.

luther2017: Was war das späte Mittelalter für eine Welt?

Volker Leppin: Sie war unglaublich spannungsvoll und pluraler als wir glauben. Es gab da überzeugte, treue Papstanhänger und andere, die sich nur auf ihren Fürsten oder städtische Rat beriefen und für die der Papst weit weg war. Zum Beispiel waren in einigen Stadtkirchen Prädikanten tätig, die in der Volkssprache und nicht im offiziellen Kirchenlatein predigten. Es gab diejenigen, die sich per Ablass von ihrer Sünde freikauften und andere, für die eine solche Veräußerung undenkbar war. Ein relativ breites Spektrum an zum Teil gegensätzlichen Glaubenshaltungen und Einstellungen also. Martin Luther ist in dieser Zeit jedoch in eine familiäre Konstellation hineingeboren, in der er einiges von dem erfuhr, was wir heute mit einem finsteren Mittelalter verbinden.

Was zum Beispiel?

Leppin: Sein Vater war eine wichtige Instanz, durch ihn hat er einen strafenden, übermächtigen Gott kennengelernt, vor dem es unmöglich war, zu bestehen. Darunter hat er sehr gelitten.

Lässt sich dann überhaupt die Glaubenshaltung jener Zeit auf einen Punkt bringen? Was ist das für eine Frömmigkeit, die das späte Mittelalter prägte – im Gegensatz zu heute?

Leppin: Ein zentraler Unterschied ist sicherlich, dass Religion in allen Bereichen der Gesellschaft präsent war – Religionsferne, wie wir sie heute kennen, ist dem Mittelalter unbekannt. Auch der Herrscher hatte mit Religion zu tun. Deswegen sahen sich die mittelalterlichen Menschen stets vor Gott gestellt. Aber das hieß nicht für jeden das gleiche: Die einen lebten in tiefer Angst vor dem Jüngsten Gericht, andere empfanden unabhängig von diesen Gerichtsgedanken im Innersten ihre Sündigkeit, aber auch eine tiefe Nähe zu Gott.

Weshalb war überhaupt so etwas wie der Ablass im Mittelalter erfolgreich?

Leppin: Weil er eine wunderbare Sicherheit gab und auf ein starkes Bedürfnis ansprach. Denn eine große Sorge und Unsicherheit vieler mittelalterlicher Menschen verband sich mit der Frage: Was passiert nach dem Tod? Hier bot der Ablass eine Lösung an, denn mit dem Geld, das man der Kirche gab, konnte man nicht nur für sich selbst das Fegefeuer verkürzen, sondern auch für bereits verstorbenen Ahnen. Das war eine ganz besondere Chance, damit warb die Kirche massiv. Allerdings gab es auch schon seit der Mitte des 15. Jahrhunderts deutliche Kritik an dieser Praxis.

Konnte diese Kritik denn auch offen geäußert werden?

Leppin: Solange sie nicht kirchenamtliche Fragen berührte, war das möglich, und die Auseinandersetzung wurde auch offen geführt. Bei Luther kam aus Sicht seiner Gegner die Schwierigkeit hinzu, dass er in seinen Ablassthesen zugleich kritische Anspielungen auf den Papst selbst und die päpstliche Leitung der Kirche machte. Zudem hatte es Luther mit besonders ambitionierten Anhängern des Papstes zu tun, wie dem Dominikanermönch Silvester Prierias, der ab dem Frühjahr 1518 mit dem theologischen Gutachten im Prozess gegen Luther beauftragt war.

Gab es im Mittelalter so etwas wie Frust an der Kirche?

Leppin: Weniger Frust an der Institution selbst als an einzelnen Amtsträgern: So wie es heute üblich ist, am Stammtisch über Politiker zu schimpfen, war es im 14. und 15. Jahrhundert normal, sich über Kleriker aufzuregen. Sie galten als sexuell verdorben, geldgierig, korrupt. Deswegen gab es eine breite Strömung des Antiklerikalismus, das zieht sich durch sehr viele Texte jener Zeit.

Hat man sich in der Kirchenleitung bemüht, diese Missstände abzustellen?

Leppin: Es gab vereinzelte Reformbestrebungen, aber das Grundproblem war, dass diese Vergehen bis in die Spitze der Kirche hinein zu beklagen waren. Das gesamte Renaissance-Papstum steht dafür. Als ein besonders schillerndes Beispiel kann Papst Alexander VI. gelten, der bis 1503, also kurz vor der Reformation, im Amt war. Er war ein Machtpolitiker, der noch seinen eigenen Kindern in der kirchlichen Hierarchie gute Posten verschaffte und einen Sohn zum Kardinal machte.

An welche Traditionen konnte Martin Luther mit seiner Theologie anknüpfen, worin wurzelt sie?

Leppin: In seinem Studium wuchs Luther mit der spätscholastischen Theologie auf. Davon hat er sich aber nach und nach abgewendet, denn sie war stark von der antiken Philosophie, vor allem von Aristoteles beeinflusst. Die Gegenimpulse, die er aufgegriffen hat, kamen aus dem Humanismus und der damit verbundenen Rückbesinnung auf die Quellen, also die Bibel. Sehr viele Impulse hat er von seinem Beichtvater Johann Staupitz erhalten, der eine Frömmigkeitstheologie vertreten hat, in der es darum ging, den Menschen ihr Glaubensleben verstehbar zu öffnen. Durch Staupitz und andere hat Luther auch die Mystik kennengelernt, die sehr prägend für ihn war. Durch sie ist ihm deutlich geworden: Gott begegne ich nicht durch die klerikale Vermittlung der Kirche, sondern unmittelbar.

Lässt sich ein Punkt festmachen, an dem Luther diese Traditionslinien verlässt und etwas Neues schafft?

Leppin: Im Grunde ist es seine Art Theologie zu treiben. Es gibt von Luther die Aussage, dass er nach dem „Kern der Nuss“ der Theologie suchte. Erstmals greifbar wird dieser Kern 1518/19: Da bringt Luther seine Rechtfertigungslehre auf den Punkt, nach der wir das Heil allein aus der Gnade Gottes empfangen. Das ist kein Satz neben anderen, sondern der eine Grundsatz, von dem aus Luther alles andere entfalten kann. Eine so zentrierte Theologie hatte es bis dahin nicht gegeben. Von hier aus kann er auch Folgerungen entwerfen, die kirchenpolitisches Handeln anleiten. Etwa wenn er aus der Rechtfertigungslehre das allgemeine Priestertum begründet. Damit konnten sich alle, auch Fürsten und städtischen Räte, befugt fühlen, Kirche zu gestalten. Und plötzlich ist ein Angelpunkt da, an dem aus einer neuen Theologie ein kirchliches Reformgeschehen wird.

Luther hat in seiner bilderreichen Sprache Tod und Teufel verlacht und verspottet und damit ausgemalt, welche Befreiung aus der Rechtfertigung allein aus Gnade erwächst. Ist es diese Erfahrung und die damit verbundene Fröhlichkeit gewesen, die seine Theologie für die Menschen seiner Zeit so anziehend machte?

Leppin: Mit Sicherheit. Das kann man gut an den Flugschriften jener Zeit nachvollziehen, die damals so etwas wie die Tageszeitungen heute waren. In diesen Zeugnissen lässt sich ablesen, was die Menschen in jener Zeit bewegte. Und sie bewegte wirklich diese Botschaft: Gott setzt euch frei. Das wurde diskutiert in den Kneipen und auf den Straßen in den Reichsstädten. Da hat man wirklich aufgeatmet und sich mitreißen lassen.

Ihr Fazit: Ist die Reformation im Mittelalter zu Hause ist oder beginnt mit ihr ein völlig neues Zeitalter?

Leppin: Ich sage immer: Sie wächst aus dem Mittelalter heraus. Die Reformation hat ihre tiefen Wurzeln im Mittelalter, entfaltet sich dann aber in einer Weise, die weit über das Mittelalter hinaus zu einer neuen Form von Kirche und Vielgestalt von Konfession führt. Nach der Reformation haben wir eine ganz andere Gestalt von Christentum als vorher. Das war sicherlich kein Bruch innerhalb von wenigen Tagen oder Wochen, sondern ein organischer Veränderungsprozess.


Volker Leppin
(Foto: epd-bild/Gerhard Schindler)

Prof. Dr. Volker Leppin ist Professor für Kirchengeschichte an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Lutherdekade. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Reformationsgeschichte und die Biographie Martin Luthers.