Er war kein Bekenntnis zur Toleranz, aber wohl ein ernsthafter Versuch, zwischen Reformierten und Lutheranern zu vermitteln: Ein Rückblick auf 450 Jahre Heidelberger Katechismus.
Bekenntnis und Toleranz scheinen sich auf den ersten Blick gegenseitig auszuschließen. Zumindest stehen sie zueinander in einer kritischen Spannung. Dem Bekenntnis eignet ein klarer und selbstbewusst vorgetragener Standpunkt, für den jemand bereit ist einzustehen. Die Toleranz zielt dagegen auf eine Akzeptanz, die über alle Standpunkte hinausgeht.
"Was bekennt eigentlich ein Bekenntnis zur Toleranz?"
Man könnte sagen, die Toleranz ist selbst ein Bekenntnis, eben ein Bekenntnis, das die Absolutheitsansprüche aller Bekenntnisse relativiert. In diesem Sinne bekennen sich heute viele Menschen ausdrücklich zur Toleranz, weil sie davon überzeugt sind, dass die Wahrheit strittig ist und bleibt. Dies Bekenntnis hat eine hohe Überzeugungskraft, denn es entspannt das Zusammenleben, jedenfalls wenn es mehr als ein billiges Lippenbekenntnis ist, das bei der ersten konkreten Begegnung mit etwas Ungewohntem in Vergessenheit gerät.
Doch wir sollten auch einen zweiten Blick riskieren. Was bekennt eigentlich ein Bekenntnis zur Toleranz? Es bekennt die Bereitschaft, unterschiedliche Weltanschauungen, Glaubensrichtungen und Religionen gewähren zu lassen. Freilich ist diese Bereitschaft nicht grenzenlos, aber so lange die eigene Lebensentfaltung nicht durch andere Lebenskonzepte beeinträchtigt oder gar bedrängt wird, gilt gleichsam der Blankoscheck der Toleranz. Das lateinische Verb "tolerare" wird in der Regel mit "ertragen", "erdulden" oder "aushalten" übersetzt. Es geht darum, etwas passiv hinzunehmen, ohne Einspruch zu erheben. Toleranz bekennt sich dazu, unterschiedliche Lebensauffassungen in gleicher Weise für gültig zu halten.
Toleranz ist nicht Toleranz: "Sie kann gleichgültig machen"
Mit dieser Erklärung gerät die Toleranz allerdings unversehens und unvermeidlich in das ambivalente Licht, von der diese Gleichgültigkeit umwittert ist, denn sie kann uns auch allen Unterschieden gegenüber gleichgültig machen. Was aber wäre, wenn mit der Toleranz zugleich die Gleichgültigkeit einzöge, wenn die Toleranz als Aufforderung zur Indolenz verstanden würde, nach der nicht nur jeder nach seiner eigenen Fasson selig werden, sondern eben auch zur Hölle fahren möge? Der bissige Antisemitismus eines Voltaire dokumentiert beispielhaft, dass noch ganz andere Abgründe in der Toleranzforderung liegen können im Sinne der Parole: Toleranz den Toleranten! Wir stoßen hier auf das Phänomen, das in der Philosophie die "Paradoxie der Toleranz" genannt wird, die eigens bedacht sein will, wenn die Toleranz nicht unversehens zu ihrem eigenen Feind werden soll.
Es zeigt sich: Toleranz ist nicht einfach Toleranz. Es reicht nicht aus, sich zu ihr zu bekennen. Vielmehr bedarf es noch eines weiteren Bekenntnisses, um das Bekenntnis zur Toleranz vor Missbrauch zu schützen. Nur so kann aus der negativen Toleranz eine positive werden. Immerhin kann "tolerare" auch mit "erträglich machen" übersetzt werden, wobei das Wort plötzlich einen aktiven Akzent bekommt. Dieses weitere Bekenntnis kann ein Bekenntnis zum Rechtsstaat, zur Humanität oder zu den Menschenrechten sein, durch das deutlich wird, dass Toleranz nicht einfach ein in sich ruhender Selbstzweck ist. Sie wird mit einer bestimmten förderlichen Erwartung verbunden.
Distanz von 450 Jahren kann nicht ignoriert werden
Dieses weitere Bekenntnis kann aber auch ein Glaubensbekenntnis wie das christliche Glaubensbekenntnis sein, das sich zu einem Gott bekennt, dessen Gnade und Barmherzigkeit allen Menschen gilt. Das trifft nicht deshalb zu, weil wir auch in all den anderen Religionen unseren Gott wiedererkennen, sondern weil der Glaube uns dazu ermutigt, in allen Menschen in ihrer unüberschaubaren Unterschiedlichkeit unabhängig von irgendwelchen Voraussetzungen ein Geschöpf Gottes zu erkennen, dem die Treue seines Schöpfers gilt.