Lutherbilder im Wandel der Zeiten (II)

1989 wurde das Berliner Martin-Luther-Denkmal von 1895 wieder ins Stadtzentrum des damaligen Ost-Berlin transportiert. Es wurde neben die Marienkirche, fast am früheren Originalplatz, aufgestellt. (Foto: © epd-bild/Bernd Bohm)

„Er ist schimpffroh, zanksüchtig, ein mächtiger Hasser, zum Blutvergießen von ganzem Herzen bereit." Wie kam Thomas Mann zu diesem vernichtenden Urteil über Martin Luther? Und wie dachten Friedrich Nietzsche, Psychoanalytiker oder Kommunisten über den Reformator? Der erste Teil unseres Beitrags behandelt die kirchlich-theologische Rezeption sowie das Lutherbild in der Zeit der Aufklärung. Im zweiten Teil geht es nun um nationalistische, sozialistische und psychologische Deutungen sowie um negative Klischees über den Reformator.

Das nationalistische Lutherbild

Hier wurde Martin Luther gesehen als der Deutsche schlechthin, der Apostel und Evangelist „seiner lieben Deutschen", der Kämpfer, der Kraftmensch, der deutsche Mann, insgesamt als der Nationalheld aller Deutschen. Diese Vorstellung spiegelt sich in manchen bildlichen und plastischen Darstellungen des 19. Jahrhunderts. Im Gefolge des Nationalismus fand dieses Lutherbild weite Verbreitung. Luther wurde hier zur Identifikationsfigur für das Deutschtum überhaupt. Der damals weit verbreitete Antikatholizismus verstärkte diese Tendenz noch. Luther stand zugleich für den Kampf gegen alles Ultramontane und Welsche, weil er es gewagt hatte, dem Papst zu trotzen, und dadurch Deutschland von der Fremdherrschaft des Papstes zu befreien vermochte. Solche Töne gab es beim späten Luther durchaus.

Dennoch liegt hier ein mehrfaches Missverständnis vor: Der Nationalismus entwickelte sich erst im 19. Jahrhundert. Für Luther spielte das „Deutsche" keine besondere Rolle. Wenn er es überhaupt erwähnt, dann als Ausdruck der Bejahung seiner geschichtlichen Zugehörigkeit, seines „Ortes". Ansonsten wusste er sich verantwortlich für die „ganze Christenheit auf Erden", die er bessern und der er dienen wollte. Zudem sah er sich am Abend der Welt und erwartete den „lieben Jüngsten Tag". Da blieb bei ihm kein Platz für nationale Hoffnungen. Wo Luther sich besonders an die Deutschen wandte, redete er ihnen meist ernst ins Gewissen, ähnlich wie es das Gesangbuchlied tut: „Wach auf, wach auf, du deutsches Land...".

Luther war außerdem nicht der Kraftprotz, als den ihn dieses Lutherbild hinstellte. Zum Reformator wurde er wider Willen, von Gott in den Kampf geführt, er litt Zeit seines Lebens unter Anfechtungen und Skrupeln wegen der Folgen seines Tuns. Die Charakteristik Nietzsches als „Der ängstliche Adler" trifft ein gutes Stück weit auch auf ihn zu. Deswegen gehört dieses Lutherbild mit Recht der Vergangenheit an.

Das sozialistische Lutherbild

Luther spielte vor allem bei Friedrich Engels und Karl Kautsky eine Rolle. Die ehemalige DDR sah sich wegen der Lutherstätten auf ihrem Gebiet genötigt, sich mit Luther zu beschäftigen. Einerseits wurde sie gezwungen zu einer gewissen Anerkennung – sonst konnte sie Luther zu runden Jubiläen nicht feiern. Sie ließ die Absage an die römisch-katholische Kirche gelten, den Säkularisierungsschub, der von der Reformation ausging: Die Öffnung und Entleerung der Klöster, das Aufhören religiöser Praktiken, die Aufwertung des weltlichen Lebens und der weltlichen „Berufe", die jetzt erst so genannt wurden. „Frühbürgerliche Revolution" – auf diesen Nenner versuchte die DDR das zu bringen, was sie an Luther positiv wahrnehmen konnte. Der revolutionäre Thomas Müntzer lag ihr mehr.

Andererseits lehnte der Kommunismus Luther heftig und entschieden ab. Zunächst natürlich wegen des Religiösen an Luther überhaupt, seines Ernstnehmens Gottes als Zentrum des Lebens und der Konsequenzen daraus. Dann auch wegen der praktischen Folgen und politischen Entscheidungen Luthers: Weil er die Fürsten als von Gott gegebene Obrigkeit anerkannte, bezeichnete man ihn als „Fürstenknecht". Seine Entscheidung gegen die Bauern im Bauernkrieg sah man als Verrat an ihnen: Erst habe er sie aufgewiegelt und sei ihnen dann in den Rücken gefallen. Durch die Entstehung einer evangelischen Kirche sei das religiöse System gefestigt worden, das die Menschen vertröstet, von der Revolution abhält und also nichts als „Opium des Volkes" sei. Diese Betrachtungsweise ist mit dem Zusammenbruch des Kommunismus obsolet geworden.

Die psychologische Lutherdeutung

Einige neuere Psychoanalytiker gehen von der Frage aus: War Luther seelisch krank? War Luther neurotisch? Entstand also die Reformation aus psychopathologischen Wurzeln? Sei es aus einer krankhaften Veranlagung Luthers zur Skrupulosität oder aufgrund der Verletzungen durch einer überstrenge Erziehung durch einen überfordernden Vater? Hat Luther möglicherweise dies Vaterbild auf Gott übertragen? Litt er also an einem Autoritätskomplex? Diese Fragen wirft zum Beispiel Erik H. Erikson auf.

Die Fragestellung ist möglich und muss zugelassen werden. Es fällt freilich schwer, eine begründete Antwort auf diese Fragen zu finden, nachdem der „Patient" tot ist, und wir nur auf seine schriftliche Hinterlassenschaft angewiesen sind. Bei der Beurteilung der Erziehung Luthers gilt es, sich den zeitgeschichtlichen Hintergrund bewusst zu machen.

Was Luther in Elternhaus und Schule erlitt, das widerfuhr praktisch allen Kindern seiner Zeit. Waren sie deshalb alle traumatisiert? Und selbst, wenn das sensible Kind Luther durch seine Erziehung tatsächlich verletzt worden sein sollte - dass seine Mitstudenten ihn als einen „hurtigen, fröhlichen Gesellen" beschrieben, widerspricht dem allerdings –, bleibt doch die Frage, was daraus folgt. Seine Klosterbrüder und Beichtväter haben zwar Luthers Anfechtungen in ihrer Tiefe nicht ganz verstanden, aber als krankhaft haben sie sie nicht angesehen. Bei seiner reformatorischen Entdeckung, die ihn ja davon befreite – handelte es sich da um eine Art Selbsttherapie? Sie war das Ergebnis langjähriger, streng wissenschaftlicher, exegetischer Arbeit. Dazu war Luther also auf jeden Fall in der Lage. Wer will diesen Durchbruch also aus seelischer Krankheit heraus „erklären"? Und wenn schon Krankheit, dann hat sie Luther dazu befähigt, hier tiefer zu leiden und zu schürfen als seine „gesunden" Zeitgenossen. Luthers Glaubenskampf im Kloster und sein befreiendes Vertrauen auf Gottes Gnade kann zudem schon deshalb nicht als krankhaft abgetan werden, weil er für viele Zeitgenossen modellartigen Charakter gewann und als Antwort für ihre eigenen Probleme angenommen wurde.

Bürgerliches und hausbackenes Lutherbild

Hier richtet man sein Augenmerk besonders auf Luther als Ehemann und Hausvater und zitiert seine Briefe an Frau und Kinder, sieht Luther vor allem als Begründer des evangelischen Pfarrhauses, als Musikliebhaber und Lautenspieler, der viele seiner Melodien selber komponierte, der im Kreis seiner Familie sitzt und mit ihr spielt und singt, denkt etwa an sein „Kinderlied auf die Weihnacht zu singen", freut sich an Luther, dem Gastgeber und Freund, in dessen Tischrunde sich stets Kollegen, Studenten, Gäste und Durchreisende einfanden und dessen vielseitige, lebendige Tischreden uns erhalten sind, fühlt sich dem Luther verwandt, der sich sein Krüglein torgauisch Bier schmecken ließ und auch den Tafelfreuden nicht abgeneigt war. Hieran erinnert in sehr plumper Weise der Studentenvers: „Wer nicht liebt Wein, Weib, Gesang, der bleibt ein Narr sein Leben lang, sagt Dr. Martin Luther", oder man zitiert Goethe: „(...) hatte sich ein Ränzlein angemäst't, als wie der Doktor Luther".

(Foto: epd-bild/akg-images)

Das alles gehört auch irgendwie zum Bild Luthers. Seine Lebensfreude wurde im Lutherjahr 1996 in Predigten wiederholt erwähnt, offenbar um ihn in seiner genussfreudigen Menschlichkeit unserer hedonistischen Zeit als Zeitgenossen zu vermitteln. Man spielte zwar Luthers Hochzeit nach in Wittenberg, stellte seine Reise nach Worms in historischen Gewändern dar, doch von seinen guten Worten zur Ehe und seiner Rede beim Auftreten vor Kaiser und Reich erfuhr man nichts. Es wurde Mode, Luthers Speisen zu servieren und interessierte sich für Luthers Krankheiten. Das Wesentliche an ihm und seinem Werk erfasst man damit keineswegs.

Negative Lutherbilder

Friedliche Zeiten bringen weniger Verständnis für Luther auf als Krisenzeiten. Das hängt sicher auch mit Luthers Charakter und Werk zusammen. Deswegen wussten sowohl die deutsche Klassik als auch der Kulturprotestantismus wenig mit Luther anzufangen. Ob die heutige Luthervergessenheit damit zusammenhängt? Jedenfalls stimmen sein Ernst und sein Ringen um Gott nicht zusammen mit dem Harmoniebedürfnis und geistigen Relativismus unserer Tage. Bei Luther gibt es kein „alles geht"

Friedrich Nietzsche wirft Luther vor, dass die Reformation Kirche und christlichen Glauben noch einmal gerettet und so gerade die – seines Erachtens – unvermeidliche Erkenntnis des Todes Gottes verhindert und verschoben habe. Heinrich Bornkamm stellt folgendes Urteil Nietzsches fest, „dass die Reformation das Papsttum gerettet habe. Der Katholizismus wurde durch ihren Angriff wieder eine Religion, die er kaum noch gewesen war (...), die Reformation hat die mit der Renaissance so glücklich begonnene Zerstörung des Christentums verhindert (...). Luther griff die Kirche an und stellte sie damit wieder her". Luther gilt Nietzsche gerade wegen des Ernstes seiner Religiosität als ein gefährlicher Hinterweltler und Verführer.

Kritisch ablehnend gegen Luther äußert sich auch Thomas Mann, besonders nach 1945. Er meinte damals, in Luther gefährliche und abstoßende Wesenszüge der Deutschen in besonderem Maße verkörpert zu sehen. „Martin Luther, eine riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens (...). Ich liebe ihn nicht, das gestehe ich offen. Das Deutsche in Reinkultur, das Separatistisch-Antirömische, Antieuropäische befremdet und ängstet mich (...), und das spezifisch Lutherische, Cholerisch-Grobianische, das Schimpfen, Speien und Wüten, das furchtbarliche Robuste (...) erregt meine instinktive Abneigung. Ich hätte nicht Luthers Tischgast sein mögen." Luther ist der, „der die konfessionelle Einheit des Erdteils sprengte, (...) ein heftiger und roher, dabei tief beseelter und inniger Ausbruch deutscher Natur (...), schimpffroh, zanksüchtig, ein mächtiger Hasser, zum Blutvergießen von ganzem Herzen bereit". Auch Thomas Mann trifft mit diesen negativen psychologischen Urteilen das Wesentliche an Luther, dem Mann, der wiederentdeckten Glaubensgewissheit, nicht.

Während sich Thomas Mann so scharf von der Person Luthers distanzierte, gewinnt er allerdings gegen Ende seines Lebens mehr und mehr Zugang zu der Einsicht in die Notwendigkeit der Gnade. Damit verhalten sich Goethe und Mann eigentümlich spiegelverkehrt zu Luther: Während Goethe Luthers Charakter preist, jedoch seine Theologie als „verworrenen Quark" abtut, schaudert Mann vor dem Menschen Luther zurück, ahnt aber etwas von dem Geschenk der Gnade und nähert sich damit dem Zentrum lutherischen Glaubens.

Was Luther in Wahrheit bedeutet, das liegt in seiner Theologie: als Christ, als Beter, als Prediger, als Ausleger der Schrift, als Seelsorger, als Verfasser von auch heute noch lesbaren Erbauungsschriften, als theologischer Denker, als Verfasser von gewichtigen und teilweise gewaltigen theologischen Werken, als Bekenner des Glaubens an Christus unter Lebensgefahr, als gehorsamer – Gott gehorsamer – Rebell. Er ist ein Lehrer der Kirche, wie es seinesgleichen im zweiten Jahrtausend kaum gegeben hat.


Dieser Beitrag erschien zuerst im „Sonntagsblatt", der Wochenzeitung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, Ausgaben 29 + 30/2008 (20./27. Juli 2008).

Buchhinweis Hanns Leiner: Luthers Theologie für Nichttheologen, Nürnberg 2007. Verlag für Theologie und Religionswissenschaft, 410 Seiten, 29,80 Euro.