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Ohne Universität keine Reformation mit internationaler Ausstrahlung

Die Universitäten sind – neben dem Papsttum – die langlebigsten Institutionen Lateineuropas. Ihr ursprünglicher „Sitz im Leben“ waren im 12. Jahrhundert entstehende städtische genossenschaftliche Vereinigungen von Magistern und Scholaren, die dem Erwerb höherer Bildung dienten und aufgrund kaiserlicher, später auch päpstlicher Privilegierungen universal geltende Graduierungen vornahmen. Mit deren Hilfe konnten ihre Absolventen einflussreiche Positionen in kirchlichen oder staatlichen Administrationen erwerben. Die seit dem 11. Jahrhundert fortschreitende „Expertisierung“ des öffentlichen Lebens, die Nötigung, Forderungen oder Absichten mit wissenschaftlicher und juristischer Argumentationslogik zu unterlegen, machten universitär ausgebildete Gelehrte vielfach unverzichtbar. Der Aufstieg der Universitäten hing mit den Differenzierungsprozessen der zeitgenössischen Gesellschaft eng zusammen.

Alte Universität in Marburg
Die alte Universität in Marburg wurde 1527 gegründet (Bild: Nikanos/Wikimedia)

Mönch, Prediger, Professor

Auch der historisch primäre „Sitz im Leben“ der Reformation war die Universität. Die These „Ohne Universität keine Reformation“ hat bisher keinen Widerspruch gefunden, was wohl dem Umstand geschuldet ist, dass ihre Plausibilität offenkundig ist: Luther war im Auftrag seines Ordens als Wittenberger Theologieprofessor tätig; das zum Auslöser seines Konfliktes mit Rom gewordene Thesenblatt über den Ablass – die sog. „95 Thesen“ – war für eine akademische Disputation bestimmt gewesen; Luthers kollegialer Rückhalt in seiner Universität bildete eine ebenso wichtige Voraussetzung seines „Hervortretens“, wie die freundschaftlichen Verbindungen, die er in seinem Ordenskonvent besaß.

Luther war – wie er selbst im Rückblick, unter Berufung auf Augustin, feststellte – einer von denen, die nicht „mit einem Schlag“, sondern in „Mühsal“ und „Anfechtung“, „beim Schreiben und Lehren […] Fortschritte“ machten. Er kam also in mühsamen akademischen Arbeits- und Unterrichtsprozessen intellektuell voran. Was auch immer es mit dem vielfach legendarisch überhöhten „Turmerlebnis“ im Einzelnen auf sich gehabt haben mag – entscheidend ist, dass es um ein Erkenntniserlebnis ging, das der Universitätslehrer Luther bei seinem elementaren Alltagsgeschäft, der Vorbereitung einer exegetischen Vorlesung, gewann. Luther legte die Bibel zwar auch für die Kanzel, primär aber für das Katheder aus. Seine frühen Vorlesungen sind der Spiegel eines sich vorwärtstastenden, in seinen Beruf hineinwachsenden Theologieprofessors, der sich auf der wissenschaftlichen Höhe seiner Zeit zu bewegen versuchte, die exegetisch-philologischen Hilfsmittel des Humanismus selbstverständlich benutzte und auch die ihm verfügbaren mittelalterlichen und patristischen Kommentare gründlich benutzte. Luther – ein untadliger Mönch, ein engagierter Prediger, aber eben auch und vor allem: ein gewissenhafter Professor.

Studenten als Träger reformatorischen Gedankenguts 

Dass Luther und seine Kollegen ihre theologischen Entdeckungen zunächst im Kreise ihrer Studenten erörterten, ehe sie vermittels des Buchdrucks ein breiteres Publikum ansprachen, war für den weiteren Verlauf und die Dynamik der Reformation entscheidend. Denn die Wittenberger Hörer, deren Zahl nach der Leipziger Disputation sprunghaft anstieg und die das verschlafene Residenz- und Universitätsstädtchen „am Rande der Zivilisation“ kräftig aufmischten, erwiesen sich als mobile, konfliktbereite Akteure. Sie zogen übers Land und störten Predigten; sie stahlen einem nach Wittenberg reisenden Buchhändler zahlreiche Exemplare von Thesen, die Johannes Tetzel und Konrad Wimpina gegen Luther verfasst hatten, und zündeten sie auf dem Marktplatz an; sie verfolgten Eck, wo immer er auftauchte; sie trugen reformatorische Drucke von einem Ort in den anderen und verbreiteten sie weiter; sie schrieben Predigten Luthers mit und verkauften die Manuskripte an geschäftstüchtige Drucker; nach Luthers Verbrennung der Bannandrohungsbulle zündelten sie weiter; eine Auflage der Bannandrohungsbulle warfen sie in die Erfurter Gera. Diese „studentische Reformation“ war die früheste von allen, viel früher als die, die dann folgen sollten – die Reformation der Städte, der Bauern, der Territorialherren, der Ritter etc. – und die in ihrer Summe eben jenen einzigartigen Zusammenhang ausmachten, den man nach wie vor am sachgerechtesten als die Reformation bezeichnet.

Philipp Melanchthon
Philipp Melanchthon (Bild: © epd-bild / akg-images / Sotheby's)

Gelehrt = Verkehrt?

Dass die Reformation aus der Universität kam, war also in beinahe jeder Hinsicht bedeutsam: In Bezug auf die denkkulturelle und diskursive Evolution der reformatorisch-theologischen Gedanken; im Hinblick auf die selbstverständliche Nähe zu den kulturellen Praktiken des Lesens, Schreibens und vor allem Druckens. Aber die Verwurzelung der Reformation in der Universität war auch zentral wichtig wegen des engen Zusammenhangs zwischen den Lehrenden und ihren Studenten. Diese zogen früher, als es Luther lieb war, handgreifliche Konsequenzen. Die Provokationen, mit denen etwa seine Schüler Franz Günther und Thomas Müntzer im magdeburgischen Jüterbog als agents provocateurs auftraten, zielten darauf ab, Konflikte zu schüren und den Entscheidungsdruck zu erhöhen. Luther hat zuerst und vor allem studentische Geister gerufen, die er nicht mehr loswurde.

In der tumultuarisch-revolutionären Phase der Wittenberger Reformation, zwischen Sommer 1521 und Februar 1522, als Doktor Martinus auf der Wartburg weilte, schien es fraglich, ob der enge Zusammenhang von Universität und Reformation eine Zukunft haben würde. Geistgetriebene Propheten, die auch unter den Studenten Zulauf fanden, stellten den Wert höherer, gelehrter Bildung grundsätzlich infrage. Das verbreitete Sprichwort „Die Gelehrten, die Verkehrten“ wurde auch in reformatorischen Kreisen populär. Der theologisch-juristische Doppeldoktor Karlstadt kleidete sich in einen grauen Bauernrock und ließ sich „Bruder Andres“ nennen; deutlicher konnte man die Konversion von einer diskreditierten Gelehrsamkeit zur heiligen Einfalt, die unmittelbar zum Gottesgeist sei und den wahren, unverstellten Sinn des Schriftwortes zu erfassen vermöge, nicht zum Ausdruck bringen.

Wegbereiter für ein europäisches Ereignis

Luther und den treuen Schulmann und ingeniösen Wissenschaftsorganisator an seiner Seite, Philipp Melanchthon, kostete es einige Mühen, die hoch aufgestiegenen Wogen zu glätten und in Fortsetzung der 1517/18 begonnenen humanistischen Reform der Universität zu einer Universität der Reformation zu gelangen. In ihr standen die biblischen Sprachen und die Auslegung der Heiligen Schrift im Vordergrund; auch die Kirchenväter wurden zu regelmäßigen Studiengegenständen; das Graduierungswesen wurde restituiert, denn auch die evangelische Kirche würde Doktoren benötigen. In der artistischen Fakultät rundete man den Kanon der humanistischen Stoffe ab; Aristoteles büßte seine Bedeutung nicht ein. Die lateinische Sprache blieb zentral – eine wichtige Voraussetzung für die rasche Internationalisierung der Wittenberger Studentenschaft, die nun aus vielen europäischen Ländern zusammenströmte, um die „wahre Lehre“ aus der reinen Quelle am „weißen Berg“, der Leukorea, zu schöpfen.

Ohne die Universität wäre die Reformation schwerlich ein europäisches Ereignis geworden. Überall dort, wo sie siegte, wurden Universitäten reformiert oder entstanden neue, 1527 etwa in Marburg, seit 1559 mit unübersehbaren Strahlungswirkungen in Genf. In der Geschichte des Protestantismus sind die Universitäten, ist die akademische Theologie, eine „Unruhe“ geblieben, die das Kirchentum angetrieben hat – weitaus stärker als im Katholizismus, dem ein Lehramt eignet. Sich der kulturellen Bezogenheit des reformatorischen Christentums auf die Universität bewusst zu werden, könnte nicht der schlechteste Dienst sein, den das Reformationsgedenken unserem zu antiintellektualistischer und antitheologischer Betriebsamkeit neigenden Kirchentum leisten könnte.


Thomas Kaufmann
Thomas Kaufmann (epd-bild)

Prof. Dr. Kaufmann ist Professor für Kirchengeschichte (Reformationszeit und Neuere Kirchengeschichte) an der Universität Göttingen und Vorsitzender des Vereins für Reformationsgeschichte. Außerdem ist er Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats „Reformationsjubiläum 2017".  

Der Text ist erschienen im EKD-Magazin „Reformation und die Eine Welt“. Das Magazin (DIN A 4) gibt es als PDF-Download oder kostenlos beim Kirchenamt der EKD (Bestelladresse: Herrenhäuser Str. 12, 30419 Hannover, E-Mail: jessica.jaworski@ekd.de). Weitere Texte zum Themenjahr „Reformation und die Eine Welt" sowie Materialien zum Download finden sich unter www.reformation-und-die-eine-welt.de/das-themenjahr/