Luther und die Avantgarde

Der Reformator als Modell für Gegenwartskunst?

Anfang März wurde der Schlüssel zum Alten Gefängnis in Wittenberg an die Organisatoren der Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ übergeben. In den folgenden Wochen verwandeln rund 65 Künstler die ehemaligen Zellen, Flure, Gemeinschaftsräume und den Gefängnishof in ein Zentrum der lebendigen Auseinandersetzung. Aus einem früheren Ort der Unfreiheit wird so ein Ort der geistigen Freiheit. Künstler wie Ai Weiwei, Monica Bonvicini, Christian Jankowski oder Zhang Peili präsentieren Werke, die eigens für die Ausstellung angefertigt werden. Die Werke entstehen teils vor Ort oder wurden sehr gezielt ausgewählt, um der Thematik in ihrer Komplexität gerecht zu werden. Darüber hinaus lädt an 40 Tagen Bazon Brock zur Besucherschule in Wittenberg ein. In Berlin und Kassel bilden eigene Künstlerbeiträge Satelliten der zentralen Wittenberger Ausstellung und werden so ein bundesweites Echo erzeugen. Dort zieht die Kunst in Kirchengebäude ein. „Mit dieser Ausstellung wollen wir Zellen aufschließen und das Bewusstsein der Besucher erweitern“, sagte Kurator Walter Smerling von der Bonner Stiftung Kunst und Kultur. Er versprach „das abwechslungsreichste Gefängnis in Zentraleuropa“.

I.

Detail aus dem Alten Gefängnis in Wittenberg. (Bild: Daniel Biskup)

Zentrale Ausstellung in Wittenberg

Zentraler Ausstellungsort ist das Alte Gefängnis in Wittenberg, das eigens für die Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ in Stand gesetzt wurde. Es bietet ungewöhnliche und vielfältige Ausstellungsflächen. Ebenso vielfältig ist die Bandbreite der gezeigten Arbeiten. Sie reicht von Gemälden, Skulpturen und Installationen über Wandmalereien, Fotografie, Zeichnungen, Video- und Sound-Arbeiten bis hin zu Performances. Dabei fordern die Kunstwerke vom Besucher Aufmerksamkeit und genaues Hinsehen. Sie weisen auf Missstände hin und stellen Fragen – mal lauter, mal leiser. 

Den konvertierten Katholiken Markus Lüpertz fasziniert die Ambivalenz Martin Luthers. Er nähert sich der vielschichtigen Persönlichkeit des Reformators bildhauerisch und unter Rückgriff auf die Legende des Tintenfasses. Sie steht sinnbildlich für Luthers Ängste vor dem Teufel und für seine Bibelübersetzung. Auch der Künstler Jonathan Meese greift die Furcht des Reformators vor dem Teufel auf und gestaltet in Wittenberg eine Zelle mit einem Manifest über den Teufel. In einer Gesamtinstallation aus Skulptur, Wandmalerei, Video und Sound bringt er Luthers Thesen in die Gegenwart. 

Die Italienerin Marzia Migliora verwandelt eine der Gefängniszellen in einen Tresorraum, in dessen Mitte sich eine an Kirchenbänke erinnernde Stufenleiter befindet. Migliora folgt Walter Benjamins Definition vom Kapitalismus als Religionsersatz und der Verflechtung von monetärer und moralischer Schuld. So verlagert sie die historische Schuld der Kirche in eine Bank und spielt auf die moralischen und ökonomischen Verflechtungen im Zeitalter des Kapitalismus an. 

Bewohnerinnen und Bewohner Wittenbergs sollen bei Kunstprojekt mithelfen

im Rahmen der Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ sammelt die Künstlerin Luise Schröder Vorschläge zur Ehrung von Frauen auf Gedenktafeln in Wittenberg. Bisher sind nur 2 der 100 vorhandenen Tafeln, die Persönlichkeiten aus der Geschichte der Stadt ehren, Frauen gewidmet.

Kunst im Knast – oder Luther und die Avantgarde!

Internationale Gegenwartskunst trifft auf Reformation. Zum 500. Reformationsjubiläum wirft das große Ausstellungsprojekt „Luther und die Avantgarde“ einen zeitgenössischen Blick auf die Reformation. Von Mai bis September 2017 werden Werke von rund 60 namhaften und internationalen Künstlern in Wittenberg, Berlin und Kassel ausgestellt. 

Luise Schröder, Preisträgerin des C/O Talents Preises 2012, bezieht die Wittenberger Bevölkerung in ihr Projekt im Stadtraum ein. Seit den 1920er Jahren werden in Wittenberg herausragende Persönlichkeiten mit Gedenktafeln geehrt, aber unter den rund hundert Namen befinden sich lediglich zwei Frauen. Dieses Missverhältnis ist für Schröder ein Ausdruck einer männlich dominierten Geschichtsschreibung und damit verbundenen Erinnerungskultur im öffentlichen Raum, die bis heute anhält. Diese Problematik in ihrer Kontinuität will die Künstlerin aufzeigen und öffentlich verhandeln. Sie hat die Bevölkerung aufgerufen, einhundert weibliche Namen einzureichen, die auf möglichen Gedenktafeln zu vermerken wären. 

Die chinesische Künstlerin Jia thematisiert in ihrer Arbeit für Wittenberg den Verlust chinesischer Kultur in Form der verlorenen Schriftzeichen, die im Zuge der Schriftenreform im China der 1950er Jahre verboten wurden. Durch die Erinnerung an den kulturellen Verlust mahnt die Künstlerin zugleich an die Kraft der Sprache als identitätsstiftendes Glied innerhalb einer Gesellschaft. Jia gelingt damit in der Auseinandersetzung mit der eigenen Sprache der Brückenschlag zu Luthers Bibelübersetzung und deren Auswirkungen auf die Entwicklung der deutschen Sprache. 

II.

Die Karlskirche in Kassel (Bild: medio.tv/Schauderna)

Satellit in Kassel

Mit dem Satelliten in Kassel schafft „Luther und die Avantgarde“ einen Berührungspunkt mit der vom 10. Juni bis 17. September in der hessischen Stadt stattfindenden documenta 14. Die indische Künstlerin Shilpa Gupta und der in Berlin lebende Künstler Thomas Kilpper zeigen ihre Arbeiten in der Karlskirche in Kassel. 

Guptas Sound-Installation „I Keep Falling at You“ thematisiert die Macht der Sprache im digitalen Zeitalter. Tausende Mikrofone hänge von der Decke in den Raum, wie ein riesiger traubenförmiger Bienenschwarm, flüstern und singen durcheinander. Das „lebendige“ Wort zu Themen wie Schwere und Schwerelosigkeit, Leben und Tod, Endlosigkeit und Begrenzung entfaltet so eine Vielstimmigkeit, die unmittelbar auf den Betrachter wirkt. Dieser gleichzeitig bedrohlichen und anziehenden Wort-Wolke ist der Besucher ausgesetzt. In dem Werk geht es um das Verführungspotential von Worten, das nicht nur für den Glauben von zentraler Bedeutung ist. 

Thomas Kilpper verbindet in seiner künstlerischen Arbeit Kunst, Gesellschaft. und Politik. Für „Luther und die Avantgarde“ widmet er sein 2008 begonnenes Kunstprojekt „Ein Leuchtturm für Lampedusa“ für den Kirchenraum um. Dazu gestaltet er den Glockenturm der Karlskirche mit Material von gestrandeten Flüchtlingsbooten als Leuchtturm. So wird er zu einem weithin sichtbaren Symbol zur Orientierung und Rettung für die Flüchtlinge. Sein persönliches künstlerisches Anliegen verbindet Kilpper mit dem Selbstverständnis der reformierten Kirche als einem Zufluchtsort für alle Menschen, unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht.

III.

Satellit in Berlin

Blick auf die Neue Nationalgalerie und die Matthäuskirche in Berlin (Bild: Wikimedia Commons/Miriam Guterland, CC BY-SA 3.0, beschnitten)

Die Briten Gilbert & George ziehen mit ihrer Kunst in die St. Matthäus-Kirche am Berliner Kulturforum ein. Ein Novum für die britischen Künstler, die eher für eine antiklerikale Haltung bekannt sind. In ihrer Arbeit in St. Matthäus zeigen sie sich aber vielmehr als aufgeklärte Kritiker. Sie benennen gefährliche Tendenzen in einer Zeit, in der demokratische Errungenschaften wie Vielfalt oder Meinungsfreiheit auf dem Prüfstand stehen. Die Turner-Preisträger, die sich humorvoll-kritisch als Teil ihrer Kunst inszenieren, zeigen ausgewählte Fotoarbeiten aus ihrer Serie SCAPEGOATING PICTURES. Zentrales Thema dieser „Sündenbock-Bilder“ sind religiöse und soziale Konflikte, Krieg und Fundamentalismus.